
Whitman und die Demokratie auf den Dortmunder U-Bahn-Zügen
„Für sich allein wird die Errichtung freier politischer Institutionen in wohlgeordneten Verhältnissen, materieller Fülle, und erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung, so wünschenswert und kostbar diese alle auch sein mögen, unserem Experiment der Demokratie keinen dauerhaften Erfolg garantieren. Vielmehr ist das moralische Bewusstsein, das Gewissen, das bedeutendste Element, ja, das Rückgrat des Staates und des Menschen.“
Aus: Walt Whitman, Democratic Vistas (1871), deutsche Übersetzung von Julia Sattler und Walter Grünzweig
Hier setzt das Projekt GEDANKENZÜGE an, das in einer Zusammenarbeit mit dem Dortmunder Verkehrsbetrieb DSW21 und der Technischen Universität Dortmund durchgeführt wird. Das Projekt setzt sich zum Ziel, die politische und kulturelle Bildung in der multikulturellen Gesellschaft zu fördern und die demokratische Weltoffenheit der Stadt zu betonen. Zu diesem Zweck wurden an den innen liegenden Dachschrägen der Dortmunder U-Bahn-Züge Aufkleber mit literarischen Zitaten des herausragenden US-amerikanischen Dichters Walt Whitman angebracht, welche in den in Dortmund vorrangig vertretenen Sprachen zu lesen sind (Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch, Polnisch, Russisch und Serbokroatisch). Der Fokus liegt dabei auf den vielfältigen Gedanken des Dichters zur Demokratie, deren Fragilität und Zerbrechlichkeit sich Whitman stets bewusst war.
Walt Whitman (1819–1892), geboren im US-Staat New York, war ein US-amerikanischer Autor des 19. Jahrhunderts. Gerade in den Jahren seines Schaffens blickte die Welt auf das neuartige Experiment der Demokratie, das mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 begonnen hatte. Whitman wollte die Demokratie allerdings nicht auf sein eigenes Land beschränkt wissen. Vielmehr sprach er die gesamte Welt an, alle Länder, Regionen, Städte, Nationen und nationalen Minderheiten, Menschen aller Berufe, jeglicher Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung, und forderte sie auf, dem Beispiel seines Landes zu folgen. Dabei war er sich der Vorreiterrolle der USA in Sachen Demokratie zwar bewusst, wollte aber sein Land keineswegs als dominante Kraft in diesem Prozess verstanden wissen. Stattdessen sah er seine Lyrik als kulturelle Diplomatie, der sich Menschen auf der ganzen Welt anschließen sollten.
Das Anbringen der Aufkleber an den U-Bahn-Zügen in Dortmund ist daher bewusst gewählt worden, da diese eine Begegnungsstätte der Menschen darstellen, ganz unabhängig von Alter, Herkunft und Weltanschauung. Insgesamt 63 dieser „Gedankenzüge“ fahren derzeit durch Dortmund und bieten den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zum Innehalten und eine Anregung zum Nachdenken über das demokratische Selbstverständnis unserer Gesellschaft.
Das Projekt GEDANKENZÜGE ist mit viel Zuspruch bereits im Jahr 2011 gestartet worden, damals mit Originalzitaten herausragender internationaler Dichterinnen und Dichter und ihrer jeweiligen deutschsprachigen Übersetzung. Zu den zitierten Poeten gehörten damals unter anderem der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus, der südamerikanische Autor Eduardo Galeano und die amerikanische Dichterin Jude Jordan.
Walt Whitman ist in Dortmund kein Unbekannter. Im November 2022 stellte der herausragende Schauspieler Armin Mueller-Stahl ein selbst entworfenes Porträt des US-amerikanischen Autors an der TU Dortmund vor, welches als Cover für den in neuer deutscher Fassung herausgegebenen Gedichtbandes „Grashalme“ dient. Im Dezember 2023 wird der US-amerikanische Literaturprofessor Edward Lowell Folsom, dessen Forschungskarriere ganz im Lichte Walt Whitmans stand, im Rahmen einer groß angelegten Veranstaltung an der TU Dortmund mit einer Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.